Gemeinderätin Anja Rächer im Gespräch

Sie ist 28 Jahre alt, seit über sieben Jahren Kurierin und seit dem 7. Januar Gemeinderätin der Stadt Zürich. Roli Munz (rm) traf Anja Rächer im Rathaus zum Gespräch.

18. November 1975:
Anja Rächer wird geboren.
Der erste Auftritt der Sex Pistols wird nach wenigen Minuten wegen öffentlichen Ärgernisses abgebrochen.
In Spanien ist Franco schwer erkrankt. Zwei Tage später, am 20. 11. 1975 wird er sterben, worauf wiederum zwei Tage danach Juan Carlos als Juan Carlos I. zum König proklamiert und wenig später inthronisiert wird.

rm: Du bist nun Zürcher Gemeinderätin als Nachfolgerin der zurückgetretenen Renate Schoch für den Stadtkreis fünf. Kam dieses Amt nicht auch etwas überraschend für Dich?

Anja: Dass ich Gemeinderätin werde, kam relativ überraschend. Das heisst: Ich habe dies schon einige Zeit vor meinem jetzt erfolgten Amtsantritt gewusst, bin aber nicht eigentlich über längere Zeit als Nachfolgerin für Renate aufgebaut worden. Im Rat vertrete ich nun den Stadtkreis fünf obwohl ich nicht im „Foifi“ offiziell Wohnsitz habe. Wie alle Veloblitzers aber identifiziere ich mich sehr mit dem 5i. Ich lebe hier ohne hier eine Wohnung zu haben. Ich stelle mir vor, bald im Kreis fünf Wohnsitz zu nehmen.

rm: Aktiv bist Du ja nicht nur als Gemeinderätin. Welches sind die wichtigsten Stationen Deines politischen Lebens?

Anja: Ich habe mich schon von klein auf für Politik interessiert. Seit der Primarschulzeit las ich die Tageszeitung. Dies haben meine Klassenkollegen nicht immer verstanden. Damals habe ich auch einen Aufsatz in der Schule geschrieben mit dem Inhalt „Ich will Bundesrätin oder Velomechanikerin werden“.
Schon immer war mir persönliches Engagement für die Allgemeinheit sehr wichtig, wichtiger eigentlich als die übliche Parteipolitik. So habe ich mich als junge Pfadileiter schon mit dem Jugendamt zusammen für die Pfadis eingesetzt. Später wurde ich aktiv in der Gay-Community, ich bin in der Homo-AG der Reitschule Bern und als Frauen- und Europa-Vertreterin im IFBMA.
Ü berhaupt werde ich aktiv, wo ich Probleme erkenne und sehe dass ich einen Beitrag zur Lösung leisten kann. Darum ist es schwierig, jetzt einfach einen Überblick zu geben wo überall ich schon wie mitgearbeitet habe.

4. September 1996:
Anja fährt ihre erste Velokurierschicht beim Veloblitz in Zürich.
Die USA führen einen massiven Raketenangriff gegen den Irak. Saddam Hussein erklärt, die Irakischen Verluste wären nur minimal.
Erste Begegnung: Israels Premier Benjamin Netanyahu und PLO-Chef Yassir Arafat schüttelten sich kurz und kühl die Hände.

rm: Wie bringst Du denn so viel Engagement überhaupt in Deiner Agenda unter?

Anja: Meine 90jährige Oma hat kürzlich gesagt, man müsse halt immer Leute um sich haben und wenn immer etwas läuft, bleibt man auch fit. Mir geht das genau so. Zudem bin ich nur zu etwa 50% berufstätig. Klar ist, dass man bei meinem Lebensstil nicht auf das grosse Geld aus sein darf. Mir ist denn auch Ideologie wichtiger als Geld. Als Velokurier hätte man ohnehin den falschen Job wenn man reich werden möchte.

rm: Welches sind Deine politischen Schwerpunkte im Gemeinderat?

Anja: Nach einer Woche im Amt ist es noch sehr früh, diese fest zu legen. Sicher liegt mir der Kreis fünf als multikultureller Stadtkreis sehr am Herzen. Auch aus sozialpolitischer Sicht interessiere ich mich für die Menschen in diesem Kreis sehr.
Dann ist mir sicher auch die Verkehrspolitik wichtig. Wenn es im Rat um Velo- und Fussgängeranliegen geht, wird man sicher von mir hören!

rm: Was dürfen wir Kuriere diesbezüglich von Dir erwarten?

Anja: Keine falschen Hoffnungen: Auch ich werde die Bussen für Velokuriere nicht abschaffen können.
In der Verkehrspolitik geht es mir klar um den Langsamverkehr. Kuriere stehen für mich dabei nicht im Vordergrund. Professionelle Kuriere kommen überall durch. Aber andere Velofahrende brauchen besonderen Schutz und Unterstützung.

14. Sept. 2003:
Anja wird Europa- und Frauendelegierte im IFBMA (International Federation of Bike Messenger Associations).
Litauen bestätigte sich als grosse Basketball-Nation. Mit dem 93:84-Finalsieg gegen Spanien wurden die Balten zum dritten Mal Europameister.
Bewaffnete Soldaten haben die Macht im westafrikanischen Staat Guinea-Bissau übernommen.

rm: Du bist ja auch selber aktive Sportlerin. Deine Partei, die Alternative Liste (AL) kämpft aber gegen eine Trainings-Eishalle und gegen das Sportstadion Hardturm. Wie erklärst Du uns diesen Widerspruch?

Anja: Erstens darf ich in meiner Partei durchaus einmal eine andere Meinung haben.
Dann muss ich aber auch sagen, dass ich unterscheide zwischen Spitzensport und Breitensport wie ich ihn betreibe wenn ich gelegentlich plauscheshalber an einem Badmintonturnier oder an einem Triathlon teilnehme. Politisch geht es mir um die Verteilung der beschränkten Finanzen. Da ist es mir viel wichtiger, dass Sportangebote für Kinder und Jugendliche ausgebaut werden als dass der Staat Grossvereine und Profisportler in unverhältnismässigem Rahmen unterstützt.

rm: Nun bist Du als 28jährige Frau noch eine recht junge Parlamentarierin. Wo siehst Du Dich in zehn Jahren? Als Bundesrätin die Du als Schülerin einmal werden wolltest?

Anja: Ich habe mein Leben noch nie für die nächsten zehn Jahre geplant. Wenn alles gut geht, werde ich auch dann noch Velokurierin sein. Und wenn es der Kreis fünf will, bin ich auch dann noch Gemeinderätin für das 5i.
Als Frau scheint man ja ohnehin nicht mehr Bundesrätin werden zu dürfen.

rm: Dann wünsche ich Dir viel Erfolg und Spass bei allem was Du anpackst. Herzlichen Dank für dieses Gespräch. Gehen wir nun noch ein Bier trinken?

Anja: Klar.

7. Jan. 2004:
Anja tritt in den Gemeinderat der Stadt Zürich ein.
Die Schweizer Armee will 100 bis 150 Leopard-Panzer verkaufen. Sie erhofft sich davon einen Erlös in dreistelliger Millionenhöhe. Möglicher Käufer ist Australien, Kampfpartner der USA im Irak.
Auf den Hauptverkehrsachsen der Stadt soll es keine zusätzlichen Massnahmen zur Verflüssigung des Verkehrs geben. Der Gemeinderat hat gestern Mittwoch ein FDP-Postulat mit offensichtlichem Mehr abgelehnt.